Unter Helmen - die Motorradkolumne
Von Burkhard Straßmann
Fahren + Stehen = Treffen
Eigentlich müssen Motorradfahrer immerfort fahren, fahren, fahren. Das hat zwei Gründe. Der erste ist ein fahrphysikalischer: Einem Motorrad, das steht, fehlen die stabilisierenden Kreiselkräfte. Es fällt um. Der zweite Grund ist ein thermischer: Die Abkühlung des Körpers durch den Fahrtwind ist enorm und steigt im Quadrat der Geschwindigkeit. Man muß sich warm anziehen. Folgerichtig ist ein stehender Motorradfahrer stets viel zu warm angezogen. Aus der Not haben die Motorradfahrer eine Philosophie gemacht: Der Weg ist das Ziel. Das Verbrennen fossiler Brennstoffe ist ein Wert an sich, gestoppt wird nur zum Tanken.
Nun hat der Motorradfahrer aber auch noch andere Interessen: Er will, daß man um seine Maschine herumsteht, über spezielle Federbeine spricht und fragt, welcher TÜV den mordsmäßig lauten Krawalltüten seinen Segen gegeben hat. Zur Befriedigung solcher Bedürfnisse wurden die Motorradtreffen beziehungsweise "Treffs" erfunden.
Ein Motorradtreffen entsteht so: Jemand hängt in der Stadt Plakate auf und schaltet Anzeigen in Motorradillustrierten, die besagen, daß es jetzt endlich den Bremer Motorradtreff. Gebrauchtbörse, Tatoos, Ledermoden, Benzin reden, Burnout-Show, Motorradkorso durch die Innenstadt gebe. Schon versammeln sich am Sonntag auf einer Industriebrache hundert Motorradfahrer, sogar aus Osterholz-Scharmbeck und Sulingen, treten von einem Bein aufs andere und sind zu warm angezogen. Ihre hochentwickelte Kommunikationsform heißt "Benzin reden" (A: "Masse Japsenhobel hier." - B: "Die Reisschüsseln gehen einem tierisch auf den Senkel." - A: "Na ja, Hauptsache Wetter stimmt.")
Ein Mann namens Grobi läßt derweil sein Hinterrad so lange durchdrehen, bis alles Gummi am Asphalt klebt und der Reifen platzt. Das heißt "Burnout", ist laut und stinkt und gilt als unverzichtbares Opferritual bei Treffen. An Tapetentischen demonstrieren die Motorradfahrer ihr unverkrampftes Verhältnis zum Tod, indem sie Totenköpfe zum Umhängen oder Aufbügeln erstehen oder sich auf den Oberarm tätowieren lassen. Mittags bricht man auf zum Korso durch die Innenstadt, 5000 dröhnende PS - eine machtvolle Demonstration für irgendwas.
Wem ein Treffen als solches nicht reicht, der stellt es unter ein Motto. Man unterscheidet Oldtimertreffs, Markentreffs, Treffs aus Anlaß einer Motorsportveranstaltung und Betroffenentreffs. Das sind problemorientierte Begegnungen von Minderheiten Stammtische für Gespannfahrer (Gespann: eine Kreuzung von Auto und Motorrad, die alle Nachteile beider Fortbewegungsmittel miteinander verbindet); Stammtisch für alle Women on Wheels (mit Pannenkurs); Vater-und-Kind-Gruppe ("Der kleinste Helm wo erhältlich?"); Treffen christlicher Motorradfahrer/innen Heavens-Rider (im evangelischen Gemeindehaus, Thema: Vorbereitung des nächsten Motorradfahrer-Gottesdienstes). Der Gottesdienst ist übrigens ein erstaunlich beliebtes Treffen. Das Motto heißt in der Regel: "Fahr nicht schneller, als dein Schutzengel fliegt!"
Der unangefochtene Treff-Klassiker aber ist das Elefantentreffen. Mitten im Winter versammeln sich in einem schneesicheren Gebiet - zum Beispiel am Nürburgring in der Eifel oder am Salzburgring - beinharte Motorradfahrer bei Glühwein und Pichelsteiner Eintopf. Sie wohnen in Zelten, verachten Sommerfahrer und singen Lieder. Da die Motorradkultur menschheitsgeschichtlich gesehen noch jung ist, hat sie bisher kein eigenes Liedgut entwickeln können. Zum Winterhimmel steigen aus hundert Männerkehlen Weisen wie "Wir lagen vor Madagaskar". 1953 trafen sich die ersten vier "Elefanten" (Synonym für das "elefantenstarke" Motorrad Zündapp KS 601) in einem Privatgarten. 24 Jahre später waren es allein in der Eifel 30 000, die 26 Schwerverletzte zurückließen und einen toten Polizisten.
Seitdem haben sich die Elefantentreffen deutlich zivilisiert. Bei jedem Treffen, das auf sich hält, gibt es einen Moment schönster und tiefster Gefühle - die Gedenkminute. Die Motorradfahrer gedenken ihrer Toten. Es ist Nacht. Fackeln sind ausgegeben. Eine Liste wird verlesen: Harry in der algerischen Wüste . . . Mike auf der B 75 . . . Betroffenheit, ja Tränen findet man dann in harten Gesichtern.
© beim Autor/DIE ZEIT 1996 Nr. 35
All rights reserved.